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Keine wahre Vorstellung

Juni 1945. Inzwischen wurden die Professoren wieder einmal sehr unruhig und deuteten mir an, dass bald der Zeitpunkt kommen könnte, wo sie verzweifelte Maßnahmen ergreifen würden, um die Welt auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
Heisenberg sagte ferner, sie vermuteten,
dass ihr potentieller Wert nach den in ihren jeweiligen Instituten vorgefundenen Dokumenten beurteilt werde. Diese Dokumente vermittelten keine wahre Vorstellung von dem Umfang ihrer Versuche, die schon viel weiter gediehen seien, als aus diesen Dokumenten hervorgehe... Er bat um eine Gelegenheit, die ganze Sache mit britischen und amerikanischen Wissenschaftlern zu erörtern, um sie mit den jüngsten Theorien der Deutschen bekannt zu machen und einen Plan für die künftige Zusammenarbeit auszuarbeiten.
(Aus dem Bericht des betreuenden Offiziers)(Farm-Hall-Protkolle S.95)

Hier spricht noch ganz der sich seiner geistigen und fachlichen Überlegenheit völlig sichere Herrenmensch, der noch nicht weiß, dass die Alliierten die A-Bombe bereits haben und nicht angewiesen sind auf die "viel weiter gediehenen" Versuche der deutschen Physiker.

Chuzpe

Mai 1945. Quartiersuche für die festgehaltenen deutschen Physiker:

Die Situation im Chateau von Chesnay wurde immer schwieriger, weil die Professoren sich darüber entrüsteten, dass sie als - wie sie es formulierten - „Kriegsverbrecher“ behandelt würden ...
... Die Professoren wurden immer nervöser ... ich sagte ihnen, dass sie sich noch gedulden müssten und dass alles nur Mögliche für sie getan werde. Um ihnen ihre Lage etwas zu erleichtern, fuhr ich mit ihnen im Auto gruppenweise nach Versailles, um die Gärten und das Schloss zu besichtigen ...
... Es war jetzt klar, dass die entstandenen Schwierigkeiten auf einen vom Oberkommandierenden erlassenen Befehl zurückgingen, der besagte, dass gefangengenommenen deutschen Staatsbürgern keinerlei Vorzugsbehandlung zuteil werden dürfe ...
... veranlasste, dass die Gruppe kurzfristig in einer Villa in Le Vesinet in der Nähe von St. Germain untergebracht werden konnte. Die Professoren waren hochererfreut über die Aussicht, das von ihnen so bezeichnete „Konzentrationslager“ [sic !]verlassen zu können (Farm Hall Protokolle S. 85)

Heisenberg u.a.

Bei der Beschäftigung mit den Rechten bin ich zu meiner Überraschung auch auf Heisenberg gestoßen, der nach dem Krieg mit Jünger und Heidegger von Jüngeradepten zu einer Art rechtsintellektuellem Dreibund zusammengeführt werden sollte, was aber über einige öffentliche Treffen nicht weiter hinausging.
Von Heisenberg war mir durch die ihn betreffenden biographischen Schriften der Eindruck vermittelt worden, es handle sich bei ihm und den anderen Physikern des Atombombenprojekts in Deutschland um jenen Typus von Nazigegnern, die auf fast schwejksche Art verhinderten, dass den Nazis der Bau einer Atombombe gelinge. Sowohl Paul Lawrence Roses "Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis", dessen Buch wegen vieler Ungenauigkeiten und einem zweifelhaften kulturphilosophischen Ansatz zurecht kritisiert wurde, in vielen Punkten aber zuzustimmen ist, als auch John Cornwells "Forschen für den Führer. Deutsche Naturwissenschaftler und der Zweite Weltkrieg" lassen da einige Zweifel aufkommen.
Demnach war Heisenberg ein weitgehend opportunistischer Karrierist, dem es auch nach dem Krieg nicht einfiel, seine Verhaltensweisen im Nationalsozialismus einer kritischen Analyse zu unterziehen.

Ein Beispiel, wie Naziargumentation auch nach der Nazizeit (in diesem Fall auch bei mir) wirkt, ist die oft zitierte Formulierung, dass Einstein zwar die Relativitätstheorie als erster entdeckt habe, aber im Grunde nur der Letzte einer Reihe anderer bedeutender Physiker wäre, die alle schon nahe an der Lösung gearbeitet hätten.
Dass diese Formulierung eine Kompromissformel war, um die neue Physik durch das Herunterspielen des (jüdischen) Anteils Einsteins gegen die Naziphysik zu behaupten und damit den Heisenbergs et al die von den jüdischen Wissenschaftlern hinterlassenen Lehrstühle zu sichern, ist mir jetzt erst bewusst worden.

Da in den zwei genannten Bücheren immer wieder auf die Farm-Hall-Protokolle Bezug genommen wird, habe ich diese in der Ausgabe von Dieter Hoffmann "Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder Die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe" nachgelesen. Diese von den Briten abgehörten und mitgeschnittenen Gespräche der deutschen Physiker während ihrer 6monatigen Internierung unmittelbar nach dem Krieg vermitteln einen einzigartigen Einblick in das Denken und Fühlen - und in die Arroganz - dieser Elite-Gruppe aus dem Nazireich.

Jüngers Selbststilisierungen

Habe S. die ersten zwei Bände der "Strahlungen" geschickt. Hier sein schöner und zutreffender Kommentar nach dem ersten Band:
Nicht nur die allgemeine Lebens- und Menschenbeobachtungen sind es, die faszinieren, auch die Details der Naturbeschreibungen und natürlich auch der Insektensammlerwahnsinns des Autors, der selbst im Kriegseinsatz noch immer irgendwo einen unbekannten Rüsselkäfer findet und dies manchmal sogar fast wie ein Geschenk des Himmels begreift.
Jünger stilisiert alles. Und das kann manchmal auch zu viel sein. Irgendwo schreibt er, daß ihm bei der Lektüre von Fontane der Gedanke kam, "dass eine starke Erzählerkraft den Autor leicht schädigt, da in ihrem schnellen Strome das feine Geistesplankton nicht gedeiht". Und irgendwie trift das, glaub ich, in einer allgemeineren Form auch auf ihn selbst zu. Die Stilsicherheit im Ausdruck, seine gebildete Ästhetik verführen dazu, allem eine Form zu geben. Auch dort wo Unausgegorenes besser unausgegoren geblieben wäre. Die Folge ist eine Stilisierung auch des eigenen Lebens zur elitär-ästhetischen Existenz. Das hat er vermutlich zur Lebensbewältigung gebraucht. Das macht ihn aber manchmal auch unausstehlich. Und hat vermutlich in der Rezeptionsgeschichte zu dem Jünger-Bild geführt, das man hat, wenn man sich nicht oder nur sehr selektiv mit seinem Schriften beschäftigt.

Ciorans Gott im Altersheim


Schon als ich vor langer Zeit Vom Nachteil geboren zu sein und Lehre vom Zerfall las, kam mir gelegentlich vor, als ob sich in diesen Texten der Düsternis und Verzweiflung ein schneidender Humor verbirgt, angesiedelt nördlicher als Norden und südlicher als Süden, wie es in einem Märchen heißt. Jetzt ist mir dank einer Leserin, die das Buch in der Hauptbücherei entlehnt und bei uns zurückgegeben hat, "Von Tränen und von Heiligen" in die Hände gefallen. ["Auch das Lesergut ist zu etwas gut!", wie es in einem alten Biblothekarslied heißt]
Dieses frühe Buch hat Cioran ursprünglich noch auf Rumänisch geschrieben, wobei er ein halbes Jahrhundet später sowohl an der späteren Übersetzung und Neuformulierung ins Französische als auch ins Deutsche selbst gearbeitet hat.
Und die Vermutung von damals bestätigt sich. Zum Beispiel diese Stelle:
Was mich vom Leben und allem überhaupt trennt, ist der furchtbare Verdacht, Gott könnte bloß ein zweitrangiges Problem sein. Dieser Zweifel - luizid bis zum Wahnsinn - zwingt uns die Hände in den Schoß zu legen: was sonst bleibt von uns übrig?
Hat etwa die Inhaltslosigkeit der Existenz Gott selbst befallen? Die Krankheit des Unwesentlichen die Wesenheit selbst angegriffen? Die göttliche Substanz muß schon seit langem verdorben sein, daß wir ihren Gesundheitszustand und ihre Kräfte in Zweifel ziehen. Gott ist nicht mehr gegenwärtig, nicht einmal mehr die Lästerungen vermögen ihn zu beleben. Wo also, in welchem Altersheim ruht er? Ich habe begriffen: ein Absolutes, das sich schont. Die Welt hat letztlich nur eine brüchige Gottheit verdient.
Wobei sich dieser Humor von jenem "Hauch eines Lächelns" unterscheidet, der vom Nachwortschreiber bei folgendem Zitat ausgemacht wurde:
Der Geheimschreiber einer Heiligen zu sein, das erachtete ich als die höchste Karriere, die einem Sterblichen beschieden war.
ist gut, hat aber eher als Quelle eine lächelnde Altersweisheit, was auch dem Zeitpunkt der Formulierung dieses Satzes entspricht.

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Tucholsky, Klaus Mann u.a. zu Jünger

In Helmuth Kiesels Jüngerbiographie wird im Abschnitt zu Jüngers ultranationalistische rHaltung in der Zeit zwischen 1. Weltkrieg und ca. 1930 unter anderem Tucholsky zitiert, der in einer Besprechung der "jungen Nationalen" auf Jünger bezogen meint:
"Kein Mensch vermag eine ganze Epoche seines Daseins als sinnlos zu empfinden. Er muss sich einen Vers darauf machen. Er kann seine Leiden verfluchen oder loben, zu verdrängen versuchen oder sie lebendig halten - aber daß sie sinnlos gewesen seien, das kann er nicht annehmen"[261]
Ein anderer Publizist, der Herausgeber des linksliberalen Tage-Buchs, Leopold Schwarzschild, formulierte auch fast eine Entschuldigung fürJüngers reaktionären Nationalismus, indem er zu einem in seinem Blatt aufgenommenen Aufsatz des "unbestrittenen geistigen Führers jenes 'jungen Nationalismus'" schreibt:
Wäre Jünger im Krieg nicht in "Führerstellung" gehoben worden und hätte er in dieser Position nicht die Chance gehabt, sich heroisch zu beweisen und dafür Anerkennung zu finden, so wäre er nicht zu einem Lebensrezept gekommen, das derart stark auf die Persönlichkeit setzt - und allerdings auch in Kauf nimmt, dass für die "Steigerung Weniger mit der Erniedrigung Vieler bezahlt wird".[298f]

Um den "Milieutheorien" dieser beiden Stellungnahmen noch eine weitere hinzuzufügen: es besteht die Möglichkeit, dass Jünger über seinen philosophischen Mentor Fischer hinaus durch die teilweise doch sehr sorgsame Behandlung durch linke Intellektuelle naturgemäß nicht nur geschmeichelt war, sondern durch das weitgehende Fehlen adäquater Persönlichkeiten auf der rechtsradikalen Seite sich langsam "De-Nationalisierte". Was sich im Übrigen auch auf die Bearbeitung älterer Schriften für Neuauflagen auswirkte. Unter anderem führte er wieder Fremdwörter ein, die er bei früheren Bearbeitungen während seiner ultranationalen Zeit ausgemerzt hatte.

Neben Remarque, Zuckmayer und anderen von Kiesel angeführten Publizisten, setzte sich auch Klaus Mann mit Jünger in sehr differenzierter Weise auseinander, die dem sehr nahe kommt, wie J. mir angesichts meiner bisherigen Lektüre erscheint:
"Er verlockt zunächst mit seinem pathetisch blutrünstigen Todhaß gegen die Zivilisation und mit seiner finsteren Schwärmerei für den 'heroischen Kern des Lebens', für das tragische Weltbild, die Läuterung des Menschengeschlechts durch das Blutbad. Die Jugend hängt an seinen Lippen, wenn er seine düsteren Reden führt. Er ist der Rittersmann im schwarzen Stahle (...) Er ist der feindliche Typ unter den Jungen, den zu befehden sich's lohnt (...)

Dass er schreiben kann, erst das macht ihn gefährlich. Seinen Gaben nach gehört er zu uns; den Arnolt Bronnen [der vom Kreis um Brecht zu Goebbels gewechselt ist] gönnen wir gerne denen drüben. Aber ein Geist von der finsteren Glut Jüngers kann Unheil stiften (...)

So horchen all die jungen Teutschen (...) neugierig auf, wenn ihr Führer den Begriff der individuellen Freiheit kurzweg für 'antiquiert erklärt'; dabei ahnen die treuen Herzen nicht, wie unheimlich diee Redenart ihres Heros sich mit der grausig großartigen Formel Lenins berührt, der die Freiheit zu den bürgerlichen Vorurteilen rechnete."

Kiesel weist bei diesem Zitat besonders auf die Nähe zum Bolschewismus hin, die ja nicht nur durch die zeitweise sehr enge Beziehung zwischen Jünger und Niekisch in der Weise bestand, dass die Denkfiguren "Nationalismus" und "Bolschewismus" im Verlauf von Niekischs Entwicklung zur Einheit wurden. Und beide einte die Ablehnung von Hitlers Pöbeltruppe gegen Ende der 20er Jahre.

Auf strukturelle Ähnlichkeiten in der Haltung von Links- und Rechtsradikalen in und zu der Weimarer Republik wird von Kiesel mehrfach verwiesen, nicht um Jünger zu exkulpieren, sondern um den Blick auf ihn auch aus der Zeit heraus zu entwickeln.

Als wesentliches gemeinsames Merkmal würde ich die "Entschiedenheit" nehmen. Die Bereitschaft, einen absoluten Schlussstrich zu ziehen, was common sense ist. Während die Rechten sich ihre Legitimation aber aus tiefer mystischer Vergangenheit holten, suchten die Linken die ihre aus der Zukunft abzuleiten.
Ernst Blochs Beschwörungen in "Erbschaft der Zeit", sich doch auch der Quellen der anderen Seite zu bedienen, bzw. diese als die ursprünglich eigenen anzusehen, konnte gegen die "Entschiedenheit" der Linken nicht ankommen. Wobei ja auch Bloch sich selber an die vermeintliche Zukunft Sowjetunion anklammerte.

Erinnert mich an die Wiederholung dieser Geschichte als Farce in den 70ern: auch hier war nach 68 alles auf "entschieden getrimmt", ein Degenhardt sang: Poesie ist Krampf im Klassenkampf" und ging zur DKP, und die Maoistisierten übernahmen Begriffe, Sprachgebrauch und Organisationsformen aus den 20er und 30er bis zur Implosion Anfang der 80er.





Technik strikes back

Friedrich Georg schreibt mir, daß bei dem letzten Angriff auf Hamburg der Satz der zweiten Fassung der "Illusionen der Technik" im Feuer zerschmolzen ist.

Jünger, Strahlungen

Der Gang des Pfaus

Am Abend Post, darunter eine bedeutende Konfession. Selbst wenn man dergleichen nicht beantwortet, erfüllt man durch den Akt des Lesens eine Aufgabe. (Edelingen, 21. Juli 1940)

Gang durch die Stadt; es wiederholten sich die Bilder der Entzauberung. So wie in Rio, auf Las Palmas oder an manchem Meeresufer meine Gänge wohlkomponierten Melodien glichen, drangen hier die Dissonanzen kränkend in das Gemüt (Rostow, 22.11.42)

Jünger, Strahlungen

Darüber gestolpert

Physiognomisch erinnert er an einen Vogel, doch an keinen lebenden.

Jünger, Strahlungen
(Es scheint, dass Jünger eher einen ausgestorbenen und nicht einen toten Vogel, so wie ich es gelesen habe, gemeint hat).

Heut locht er uns die Fahrkarte


Zur Banalität des Bösen hat E. Jünger anlässlich der Nachricht von der Verhaftung Himmlers in sein Tagebuch vom 23. 5. 1945 notiert:
"Was mich an diesem Mann immer seltsam berührt hat, das war die penetrante Bürgerlichkeit. Man möchte denken, daß ein Mensch, der den Tod von vielen Tausenden ins Werk setzt, sich sichtbar unterscheiden müsse von anderen und daß furchtbarer Glanz ihn umstrahle, luziferische Pracht. Statt dessen diese Gesichter, die man in jeder Großstadt findet, wenn man ein möbliertes Zimmer sucht und ein vorzeitig pensionierter Inspektor die Tür öffnet."
Das mit der "luziferischen Pracht" ist ganz der alte Jünger, und seine Enttäuschung über diese billigen Aufblaspuppen, die sich anmaßen für das zu stehen, was Jünger einer kleinen Elite vorbehalten glaubt, ist in seinen Tagebuchblättern immer wieder zu finden. Aber Folgendes geht tiefer, dort, wo wir noch immer und in einer auf den ersten Blick sanfteren Totalität mehr denn je sind:
"Hieran wird andererseits der Umfang deutlich, in dem das Böse in unsere Institutionen eingedrungen ist: der Fortschritt der Abstraktion. Hinter dem nächstbesten Schalter kann unser Henker auftauchen. Heut stellt er uns einen eingeschriebenen Brief und morgen das Todesurteil zu. Heut locht er uns die Fahrkarte und morgen den Hinterkopf. Beides vollzieht er mit der selben Pedanterie, dem gleichen Pflichtgefühl. Wer das nicht bereits in den Bahnhofshallen und im Keep smiling der Verkäuferinnen sieht, geht wie ein Farbenblinder durch unsere Welt. Sie hat nicht allein fürchterliche Zonen und Perioden, sondern sie ist von Grund auf fürchterlich."