Der "Geburt des Neoliberalismus" widmet die ZEIT 33/08 einen Artikel, in dem einleitend geschrieben steht:
Vor 70 Jahren beschloss eine internationale Gruppe liberaler Intellektueller auf einem Treffen in Paris, die Welt zu ihrem Glauben zu bekehren. Es war die Geburtsstunde des Neoliberalismus
Zu einem Geburtstag gehören Geschenke und BibliothekarInnen schenken zumeist Bücher, zum Beispiel:- Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik, wo dieses begriffsbildende Symposium auf Seite 188ff angesprochen wird (übrigens versehentlich mit 1939 datiert). Unverzichtbar für eine Auseinandersetzung mit der Wirkungsgeschichte des "Neoliberalismus", ein Begriff, der heute wie jener der "Globalisierung" rasch dahergesagt wird und alles mögliche zu bedeuten vermag.
- Alessandro Pelizzari: Die Ökonomisierung des Politischen ist ein Einstieg zum Verstehen der Mechanismen, die dazu führen, dass funktionierende Solidarsysteme wie Bildung, Gesundheit, Altersversorgung unter das Diktat neoliberaler Logik geraten und systematisch zerstört werden. Im Öffentlichen Bereich ist das passende Werkzeug dazu das unter verschiedenen Namen eingesetzte "New Public Management".
- Wilfried Glißmann: Womit finde ich mich konfrontiert? Indirekte Steuerung im Konzern aus der Perspektive der Beschäftigten in "'Rentier ich mich noch'? Neue Steuerungskonzepte im Betrieb". Eine faszinierende Studie unter anderem daüber, wie Prozesse der Selbstorganisation der Beschäftigten unter dem "Regime" indirekter Steuerung zu internalisierten Sachzwängen gerinnen, in denen das eigene Tun stets als defizitär erscheint und die eigene Produktivität nur als Kostenfaktor wahrgenommen wird.
- Uwe Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Ausgehend von der Frage, wie in einer Gesellschaft, in der abweichendes Verhalten ein wünschenswertes Alleinstellungsmerkmal, noch Widerstand möglich sei, stellt Bröckling fest:
Der Sog der unternehmerischen (Selbst-)Mobilisierung lässt sich planvoll erzeugen, die Widerstände dagegen nicht. ... Es gibt eine Wissenschaft des Regierens, aber keine des Nicht-regiert-werden-Wollens. ... Daher bleiben Beschreibungen der Kunst, anders anders zu sein, stets anekdotisch. Man kann Geschichten des Nichtfunktionierens oder des Umfunktionierens erzählen, Theorien daraus ableiten kann man nicht.
Diesem melancholischem Befund setzt der Autor, wie er in einem Interview feststellt, analog zu Gramsci einen "Optimismus der Tat" entgegen und hofft auf eine "self-destroying prophecy". Bietet sehr viel Material und teilweise tiefgehende Einsichten, aber eben ohne Handlungsperspektive, die wohl auch aus diesem Kontext her nicht zu leisten ist.
- Detlef Hartmann: Cluster. Die Organisation des sozialen Kriegs. Und
Gerald Geppert. Global Player und clusterorientierte Regionalisierung. Beide in "Cluster. Die neue Etappe des Kapitalismus". Analyse des Zusammenwirken McKinseys mit der Region Wolfsburg und mit VW als Versuchslabor für "die neuen Sozialtechniken der Unterwerfung und Selbststeuerung , wie sie in den 'Arbeitsmarktreformen Hartz I-IV' staatlicherseits vorangetrieben wurden". Der Versuch der "unverbesserlichen grauen Köpfe" eine "Diskussion über neue Möglichkeitsbedingugnen des Widerstands" zu eröffnen.
Weiters ein paar Spenden von Unwörtern als Geburtstagstorten-Kerzerln:
- Portfolio - seit einiger Zeit wollen die SchülerInnen nicht mehr Hilfe für Referate oder Projektarbeiten, sondern für ihr "Portfolio". Was ich anfangs für ein saublödes Modewort hielt hat Methode, wie ich bei Hartmann (s.o.) unlängst lesen musste: der "Portfolio-Wahn" ist ein durchkomponiertes Konzept und nicht von ungefähr aus der kapitalistischen Ökonomie entnommen,
"ein Begriff für eine Sammelmappe von Vermögens- bzw. Wertpapierbeständen. SchülerInnen sollen von der Grundschule an in einer Mappe Arbeitsstände, Lernergebnisse, Qualifikationen und Arbeitsproben sammeln, laufend selbst bewerten und damit Fähigkeiten der Selbstrechenschaft, -orientierung an Leistungsmarken und -vereinbarungen, -evaluation, -steuerung, -reflexion zu entwickeln, standardisieren und vor allem für die Kontrolle ikm Sinne einer totalen Selbstüberwachung transparent machen" (Hartmann, S. 204)
Inzwischen sind bereits Kindergartenkinder Objekte der Begierde der Portfoliomanie.
- KundInnen, Kundenorientierung - alle und jede/r werden zu KundInnen. Die BibliotheksbenutzerInnen für die BibliothekarInnen, diese wieder für die EDV-Abteilung. welche ihrerseits an die EDV-Firmen Aufträge erteilt, die vom "Kunden BibliothekarIn" gemeldeten Defekte zu reparieren, damit die KundInnen BüchereibenutzerInnen wieder einen funktionierenden Opac haben, und somit ein positives Feedback über den Dienstleister Bibliothek geben, was die BibliothekarInnen in die Lage versetzt, auch dem Dienstleister EDV-Abteilung eine günstige Rezension zu verpassen, worüber sich die EDV-Abteilung freut und in ihrem Leistungsbericht vermerkt, womit künftig neue KundInnen sowohl aus dem magistrats- als auch aus dem privaten Wirtschaftsleben gewonnen werden sollen. Erwähnte ich schon, dass seit 5 Wochen in unserer Bücherei ein toter KundInnen-PC steht?
Aus dem Obigen lugt schon das nächste Unwort hervor:
- Evaluierung - beispielsweise wenn es darum geht, Büchereien erweiterte Öffnungszeiten zum Nulltarif aufzuschwatzen, wie bereits anhand eines konkreten Evaluierungsprozesses beschrieben.
Als Geburtstagsständchen für das greise Geburtstagskind, für das es hoch an der Zeit ist, in den Himmel der Hayek, von Mises, Friedman, Pinochet und Reagan einzukehren, schlage ich folgendes aus dem Vorwort von "Cluster" vor:
"Wissen sei Macht, hat vor 100 Jahren ein Arbeiterführer gesagt - die Wissensproduktion in McKinsey-Zeiten scheint hingegen den Möglichkeitsraum und Möglichkeitssinn des je einzelnen bis auf einen schmalen Korridor zugestandener Wahlalternativen zu verengen. Sie setzt immer schon Anpassung und Angleichung subjektiver Potentiale und Fähigkeiten voraus, die darum systematisch von Kindesbeinen an domestiziert, beschnitten und auf das Wettbewerbsfähige hin formiert werden - manchmal sogar in besten 'erzieherischen Absichten'. ... Wir sollten ein aktives Interesse an einer neuen Dialektik der Wissensproduktion formulieren, die Chancen eröffnen könnte, dass Möglichkeitsräume und -sinne wieder gedehnt und geöffnet werden. ... Unsere Aufgabe könnte es sein, angesichts der technologisch erzeugten grenzenlosen Scheinmöglichkeiten antithetisch auf dem authentischen Bezug zum Sozialen zu beharren. ... Die Zeit läuft gegen uns. Aber, dass es 'so weiter ginge', wäre, nach Walter Benjamin, die Katastrophe. Haben wir eine Wahl, Sisyphos?
Vorlesungen am Colleges de France 1977/1978,
in 2 Bänden.
http://www.perlentaucher.de/buch/18461.html
Ich wollte den Begriff "G" vermeiden, weil der oft abschreckend wirkt, vor allem, wenn ich ihn auszusprechen versuche :-)
Daher habe ich nur den Titel der zweiten Vorlesugnsreihe angeführt, die sich im Eigentlichen mit dem Neolib befasst.