Tango-Bubis

Im zweiten Band des Deutschen Tagebuchs von Kantorowicz bin ich im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 auf diese Bezeichnung gestoßen. Ein Uni-Assistent von K. besucht diesen im Krankenhaus und erzählt schreckensbleich und ohne Parteiabzeichen auf dem Revers, dass die Bauarbeiter streikten und demonstrierten sowie Parteimitglieder verprügelten.
"Er vermutete westliche Provokationen. Unter den Linden trieben sich Tangobubis und Schlägergruppen aus West-Berlin herum und hetzten die Arbeiter auf."
Man könnte annehmen, dass der Assistent, den K. vorher zusammen mit anderen als "doktrinär überzüchtet" eingeschätzt hatte und später als "parteistrebsam" bezeichnete, einfach Parteifloskeln wiedergegeben hatte, so wie im DDR-Rundfunk zu hören:
"Und kein Deutscher kann, wenn er ernsthaft überlegt, auch nur für einen Augenblick annehmen, daß Adenauer, der schon tausend Arbeiterdemonstrationen zusammenschießen ließ, wirklich Arbeiterinteressen im Auge hatte, als er seine "Garde", Tangojünglinge, CIC-Agenten und ähnliches Gelichter, in hellen Scharen in den Demokratischen Sektor von Berlin marschieren ließ. Durch das rechtzeitige Eingreifen breiter Teile der Bevölkerung, die durch unsere Volkspolizei vorbildlich unterstützt wurden, sowie durch das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht - die die wahren Ziele der Ausschreitungen rechtzeitig und frühzeitig - früher als wir - erkannt hat - wurde ein Anschlag vereitelt, der gegen die ureigensten Interessen der Arbeiter selbst gerichtet war." (Erich Selbmann: Taten zum Wohle des Volkes[DDR-Rundfunk,23.6.1953])
Doch wenige Zeilen später übernimmt K. in einer realistischeren Einschätzung selbst diese Bezeichnung, was darauf hinweist, dass "Tangobubis" auch für ihn eine zutreffende und negativ gemeinte Bezeichnung für einen bestimmten Typus waren:
"Mag sein, dass auch Provokateure den Zeitpunkt genutzt haben, doch was für eine armselige Ausrede, sich weiszumachen, ein paar Tangobubis vermöchten einen Arbeiteraufstand auszulösen."
Auch bei Victor Klemperers "So sitze ich denn zwischen allen Stühlen" finden sich "Tango-Jünglinge" im Umfeld der 17.-Juni-Ereignisse. Allerdings als Propaganda-Ausdruck gekennzeichnet:
"LQI. Tango-Jünglinge aus Westberlin"
Mit LQI = "lingua quarti imperii" bezeichnet Klemperer SED-Jargon-Ausdrücke, analog zu den in der Nazizeit geschaffenen Begriffen, die er mit "LTI" ("lingua tertii imperii") gekennzeichnet hatte.
Ob Klemperer in seinen Tagebüchern 1933-45 "Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten" bereits "Tangobubis/jünglinge" in seine Jargonliste aufgenommen hat, kann ich mich nicht erinnern, glaube aber eher nicht.

Jedenfalls wurden im "Dritten Reich" in unterschiedlichen Zusammenhängen Jugendliche, welche den HJ-Normen nicht entsprachen, mit "Tangobubis/jünglinge" verächtlich zu machen versucht.
Z.B. konnte bereits sorgfältig gewählte Kleidung beim Theaterbesuch statt Uniform zum Ärgernis werden:
"Wenn wir ins Theater gingen, dann machten wir uns fein, egal ob privat oder beim Theater-Ring der HJ. In gewisser Weise opponierten wir sogar gegen den HJ-Zwang, wenn wir in blauem Einsegnungsanzug, dunklem Mantel und weißem Schal ins Theater kamen, wo die meisten anderen in Uniform waren.
Wir begaben uns damit bewusst in eine Außenseiterrolle. Deshalb ärgerte es uns auch nicht, als uns nach einem Theaterbesuch einige Hitlerjungen, sicher angestachelt von ihrem Scharführer, abfällig Tango-Bubis nannten. Ganz im Gegenteil, wir waren sogar ein wenig stolz auf uns." (Jahrgang 28)

Dies dürfte die "Ur-Figur" des "Tango-Jünglings" gewesen sein, die vermutlich noch aus der Zeit vor der Machtübernahme der Nazis kommt:
"Damals trug ich Lackschuhe und weiße Kragen schon am Vormittag, das lange pomadige Haar lag mir glatt am Kopf, in der Mitte gescheitelt. Dazu übte ich einen Blick aus halb geschlossenen Augen, so als lohne es nicht, in den Tag zu sehen. Den Kopf leicht geneigt, begnete ich einer rauhen Welt, die mich Tangojüngling nannte" (Lorenzen: Als ich noch Tangojünglig war; in: Heinrich Himmler und die Liebe zum Swing). Ausführlicher hier.
Deutlich bewusstere Opposition legte die "Swing-Jugend" an den Tag. Ihnen gemeinsam war die Liebe zum Jazz und ihre Anglophilie, und sie hatten weder mit Hitlerjugend noch mit "Drittem Reich" was am Hut:
"Die ansonsten z.B. als "Swing-Heinis", "Tango-Bubis" und "Hotter" Beschimpften fanden sich z.B. im "Churchill Club" , als "Anthony Swingers" oder eben - bspw. in Kiel - im "Club der Plutokraten" zusammen. Sie legten sich englische Pseudonyme wie "Eton Jackie" oder "Fiddling Joe" zu, begrüßten sich mit Worten wie "Swing high - Swing low" oder gar mit "Swing Heil" und eben der erwähnten Verballhornung des "deutschen Grußes" - "Heil Hotler"." (Heil Hottler grüßt der Plutokrat)
"Nein, 'ganz normale Jugendliche', wie man es heute oft liest, waren die "Hotter", "Stenze" oder "Tango-Bubis" kaum. Der Normalität entsprachen damals die Anderen. Ein paar Tausend, in großen Städten wie Hamburg, Frankfurt am Main, Bremen oder Hannover, konnten nicht normal sein, auf dem Hintergrund der Millionen der Hitlerjugend. Gegen das Attribut "normal" hätten sie sich vehement gewehrt. Wenigstens insofern stimmten sie mit der Masse überein." (Lexi-tv - Swing)
"Doch die Swing-Kids fielen durch ihr Verhalten und ihre Lebensart aus den Idealvorstellungen der Nationalsozialisten heraus, mit deren Ideologie sie schon bald in Konflikt gerieten. Die deutsche Frau sollte sich nicht schminken und nicht aufreizend kleiden. Die männlichen Swing-Kids, auch Swing-Heinis oder Tango-Jünglinge genannt, waren das Gegenteil von dem, was man sich unter einem Hitlerjungen vorstellte. Sie gaben sich weder drahtig noch soldatisch, sondern trugen anstelle des von der HJ propagierten Kurzhaarschnitts ihre Haare lang."(Die Swing-Jugend)
Ein neuer Text nach der Melodie eines bekannten Liedes verspottete die HJ:
Kurze Haare, große Ohren
so war die HJ geboren!
Lange Haare, Tangoschritt -
da kommt die HJ nicht mit! O-ho. O-ho!
Und man hört's an jeder Eck'
die HJ muß wieder weg! O-ho, O-ho! (
Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich. S. 270)

Die Repressionen ließen nicht lange auf sich warten:
"Der HJ ­ Streifendienst nahm seine Aufgabe der Überwachung von 'Verwahrlosungs- und Zersetzungserscheinungen' in Eimsbüttel mit Härte wahr. "Tango-Jünglinge" oder "Swing-Heinis" wurden von den Streifendienstlern oft brutal verprügelt. Der Eimsbüttler Swing-Heini Gunter Lust erinnert sich:
'Immer wieder wurde man aus den Lokalen und Kinos herausgeholt, verprügelt und zu Wochenendarbeit verurteilt. Dies schmeckte uns gar nicht. Mich hatte die Streifen HJ eines abends, als man mich nach 22 Uhr noch auf der Straße antraf, in ein Treppenhaus gezerrt und gottjämmerlich verprügelt. Meine Freundin, die ich bei mir hatte, ließ man wieder laufen.'..(...)
Solche Schlägereien hatten nichts mehr mit den harmlosen Kämpfen "Straße gegen Straße" zu tun, die die Kinder und Jugendlichen in Eimsbüttel immer einmal wieder gegeneinander austrugen und von denen viele Zeitzeugen noch heute mit Begeisterung berichten. Das war bitterer Ernst. Einige Jugendliche, die sich zur Wehr setzten, gerieten sogar in die Fänge der Gestapo."(HBS)
Es scheint, dass auch im Westen Nachkriegsdeutschlands die Nazibezeichnung ziemlich bruchlos auf Jugendliche angewandt wurde, die vom Idealmodell der "Aufbaugeneration" abwichen:
"Auch in den politischen und publizistischen Debatten über einen verschärften 'Jugendschutz' wurde eine angeblich weit verbreitete jugendliche 'Verwahrlosung' beklagt, die sich in Aufsässigkeit, Unordentlichkeit, Herumtreiberei äußere und zur sicheren „Asozialität“ führe. Tiraden gegen „Tangojünglinge“, „Modepuppen“ oder „Halbstarke“ gehörten zur Standardkommunikation zwischen den Angehörigen der Kriegs-und der Nachkriegsgeneration, und das nicht nur in Deutschland." (40 Jahre 1968)
"Der Volksmund ist bisweilen ebenso humorig wie treffsicher. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg hat er mit bitterem Sarkasmus einen neuen Begriff geprägt, den 'Tango Jüngling'. Sein Steckbrief ist landläufig bekannt. Bekleidung: kothurnartige Crépe-Schuhe, Buschhemd, Dritter-Mann-Mantel, grelle Krawatte; Auftreten: übertrieben mode- und geltungssüchtig, hält sich meist in oder vor Kinos oder auf Rummelplätzen in lockeren Rudeln auf oder in Kneipen, wo Jazz heiß serviert wird; besondere Kennzeichen: Kofferradio oder Motorräder, die sehr schnell sind und viel Lärm machen."   ("Synkopen am laufenden Band...")
Allerdings hat sich zum Teil die Erscheinungsform, an der sich das Etikett "Tango-Jünglinge" anheften ließ, inzwischen geändert, denn ihre Beschreibung wirkt für die damalige Zeit bereits sehr unmodern:
"Vor allem der Swing, damals die im Jazz vorherrschende Stilart, begeisterte uns Jugendliche. Die neue Musik war immer öfter im Radio zu hören ... Besonders gut erinnere ich mich an die "Harry-Harder-Combo" vom Kurfürsten- damm Berlin, die irgendwann im Winter 1947/48 im "Resi" engagiert war. Eine tolle Band - wenn sie "Hey-Ba-Be-Re-Ba" hotteten oder den "Flat Foot Floogie" swingten, schrien wir vor Begeisterung. Man nannte uns damals etwas verächtlich die Swing-Heinis. Wir wiederum nannten unsere Altersgenossen, die Schnulzen und lahme Schlager liebten (wie z.B. die "Caprifischer"), herablassend Tango-Jünglinge. Sie schmierten sich Pomade in die Haare, hatten lange Jacketts an und waren hinter allen Mädchen her. Diese Stenze zog es mehr in die "Scala", in der sehr gute Tanzorchester spielten, wie z.B. "Harry Weissnicht" vom "Luisenhof" Dresden-Weißer Hirsch. Hier machte man auf vornehm. Die Preise waren hoch, und es herrschte Krawattenzwang. Wer ohne Schlips kam, wurde nur eingelassen, wenn er sich an der Garderobe einen auslieh gegen Hinterlegung eines Pfandes. Solchen Firlefanz mochten wir nicht und gingen dort kaum hin." (Jazz in Görlitz)
Aber gerade auf diese Auslaufmodelle warf das Maschinengewehr Gottes seine strengen kirchlichen Augen:
"Und jetzt frage ich Dich: Mädel, kennst Du den Mann, den Du Deinen Bräutigam nennst? Mit dem Du eines Tages vor den Traualtar treten willst? Ist er etwa auch einer jener Tangojünglinge, die Augenränder haben wie die Autoreifen?
Weißt Du auch, daß in jedem Mann ein Ritter und ein Raubritter steckt? Hüte Dich davor, den Raubritter, den Casanova in ihm herauszufordern! Denn dann wird er an Deiner Seite die Straße mit geilen Augen wie ein Scheinwerfer nach sexueller Aufputschung abgrasen." (Pater Leppich)
Und schließlich ein später Reflex von Marx Merkel:
"Die Stagnation im Weltfußball fällt aber auch auf die Trainer zurück, die mit ihrer Mannschaft zu oft zufrieden sind. Sie streicheln ihre Tango-Bubis immer nur." (Max Merkel)

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