11 Minuten können ganz schön viel sein

Im heutigen Falter 30/08 S. 18 wird unter dem Titel "Der Elf-Minuten-Mensch. Leben 2.0." von Ingrid Brodnig anhand einer Studie von Gloria Mark festgestellt und gefragt: "Immer mehr Geräte versprechen Effizienz und bessere Kommunikation. Stattdessen lenken sie uns dauernd ab. Warum wehren wir uns nicht?"
Die Studie ist übrigens auch schon vier Jahre alt und "Die Zeit" hat aus ihr vor zwei Jahren die Befürchtung abgeleitet: "Vor lauter Unterbrechungen gibt die Menschheit bald den Geist auf."
Ähnliches befürchtet offenbar die "Falter"-Redakteurin und zitiert zum Thema noch einige andere "Unterbrechungsforscher", wie sie "Die Zeit" so hübsch nennt (oder ist dies eine Eigenbezeichnung dieser relativ neuen ForschungsnischenbewohnerInnen?), updatet die angejahrte Geschichte mit Facebooknutzungsdaten, läßt einen Soziologen davon reden, dass der durchschnittliche Amerikaner nur noch zwei statt drei enge Freunde sein eigen nennt (der tief in die Vergangenheitsform geschobene Antiamerikanist in mir flüstert völlig unangebracht: für einen Amerikaner ist das ja recht viel) und veranlasste "Falter"-KollegInnen zu eigenen, recht uninteressanten Schilderungen, wie sie mit ihrem elektronischen Werk- und Spielzeug umgehen. All dem haftet etwas Jammriges an, ähnlich wie auch dem Erlebnisbericht "Ich bin dann mal offline" des sich "Internet-Junkies" nennenden Marc Röhlig.
Der Nudelwalker hat sich zu Recht leicht sarkastisch über diese aufgesetzte Demonstration von angeblicher Charakterstärke geäußert und auf ein klassisches Beispiel eines "Furchtbar-was-macht-diese-neue-Technik-doch-mit-mir!" hingewiesen, welches wohl zu den häufigsten kindlichen Traumen der meisten später BibliothekarInnen und BücherantInnen Gewordenen zählen dürfte.

Jene, die heute über die Anmutungen der Internet- und Kommunikationsmedien jammern, waren zumeist auch diejenigen, die uns vor Jahren mit ihrem ungefragt vorgeführten neuen Spielzeug nervten. Das war schon in der Frühzeit der Handys so, wenn die wenigen Handybesitzer, die es damals gab, blitzschnell zu diesem teuren Ding griffen und sofort lospalaverten, wenn ein Bekannter in der Nähe aufkreuzte; oder mit einer Regelmäßigkeit angerufen wurde, dass damals der Verdacht die Runde unter den Spöttern machte, dass die wenigen Handybesitzer ein Netzwerk des Telefonterrors gebildet hätten, dessen einzige Aktivität darin bestand, sich ohne Unterlass gegenseitig anzurufen. Damals ging auch kaum jemand dieser Tinnitus-Aktivisten aus dem Haus, ohne das einer Revolvertasche ähnelnde "Handybag" umgeschnallt zu haben. Erst Umberto Eco hat den Bann gebrochen, als er in einer seiner Glossen darauf hinwies, dass die Handyträger nicht die wichtigen Menschen seien, weil wichtige Menschen jene wären, die sich von Untergebenen vor unerwünschten Kontaktaufnahmen abschirmen lassen:
"Wer das Handy als Machtsymbol heraushängen will, zeigt damit in Wirklichkeit doch nur allen seine verzweifelte Lage als Subalterner, der gezwungen ist, in Habachtstellung zu bleiben, auch wenn er gerade einen Beischlaf vollzieht".
Nicht gerade ein Status, welcher von den Handyträgern vermittelt werden wollte. Dazu passt ja auch, dass jemand wie Peter Westenthaler lange Zeit ausschließlich als "Haiders Handy" wahrgenommen wurde, ehe es beschlossen hatte, als Politiker laut zu werden.

Wenn man davon absieht, dass es außer wirklich Kranken jedem, der halbwegs seine Sinne beisammen hat, zuzumuten ist, seinen Umgang mit den Arbeitswerkzeugen und Spielzeugen vernünftig zu regeln, überschattet diese eitle Jammerei das wirkliche Problem: dass eine immer größere Zahl von Menschen bei der Strafe des Jobverlustes dazu gezwungen ist, stets und überall erreichbar und damit verfügbar zu sein. Dass dieses Anforderungsprofil als Randerscheinung - wie die prekären Arbeitsverhältnisse - mehr und mehr in der Mitte der Arbeitswelt zur Norm wird. Daher auch nicht mit dem einer Diätkur ähnlichen Verhaltensweise das Auslangen gefunden werden kann, sondern konkreter Widerstand notwendig ist. Darüber läßt sich aber nicht so infosexy berichten.


Weil auch mal was Positives geschrieben werden sollte: der Falter-Eigen-Hero der Woche ist diesmal Florian Klenk für seinen Artikel über die "Arigona-Spitzelaffäre"; ihm und Peter Pilz ist es zu verdanken, dass dieser Skandal noch nicht juristisch entsorgt werden konnte wie seinerzeit die FPÖ-Spitzelaffäre. Wobei die beiden sowieso als Dauer-Heroes für Namhaftmachung von Verbrechen im Politmilieu gelten können.
Brecht hätte wohl gesagt: ... arm ein Land, das Heroes braucht, um Selbstverständlichkeiten durchzusetzen. Womit wir wieder bei der feigen SPÖ wären, die seit einem halben Jahr kein Ohrwaschel gerührt hat, um gegen die Willkür der Behörden und des Innenministers im Arigona-Skandal einzuschreiten ...

Hedonistin - 2008.07.24, 10:51

Mit dem Feigheitsvorwurf unterstellt mensch imho der SP mehr Charakter, als sie vermutlich gezeigt haben würde, hätte sie in diesem Fall das alleinige Sagen gehabt: Bemüht sie sich nicht seit Jahr und Tag, die bevölkerungsintern vermutetete Forderung nach möglichst hartem Durchgreifen gegen Zuwanderer immer noch einen Tick besser und strenger zu erfüllen als jene Parteien, die damit ganz offen Wahlkasse machen?

haftgrund - 2008.07.25, 02:50

stimmt schon. Offenbar habe ich mich davon hinreißen lassen, dass ich was Positives schreiben wollte :-)
Doch hätte ich bedenken müssen, dass positives Denken krank macht. Was hiermit bewiesen wurde :-)

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