Schopenhauer im Direktorszimmer

In seiner auch heute noch gut zu lesenden Schrift "Marxismus und Philosophie" hat sich Karl Korsch u.a. den unterschiedlichen Zugängen marxistischer Theoretiker zur Philosophie bzw. zum philosophischen Gehalt des Marxismus gewidmet. Wobei er auf eine scheinbare Paradoxie hinwies, dass offenbar zwischen bürgerlichen und marxistischer Wissenschaftern (v.a. der Zweiten Internationale) in einem Punkt Konsens herrscht:
"Die bürgerlichen Philosophieprofessoren versicherten sich gegenseitig, daß der Marxismus einen eigenen philosophischen Gehalt nicht besäße - und glaubten damit etwas Großes gegen ihn gesagt zu haben. Die orthodoxen Marxisten ihrerseits versicherten sich ebenfalls gegenseitig, daß ihr Marxismus seinem Wesen nach mit der Philosophie nichts zu tun habe - und glaubten damit etwas Großes für ihn zu sagen."
Diese theoretischen Annahme,
"dass der Marxismus als solcher eine Theorie und Praxis sei, zu deren ... Bestand keinerlei bestimmte Einstellung gegenüber irgendwelchen philosophischen Fragen gehörte",
zog nach sich, dass es
"auch nicht als eine Unmöglichkeit anzusehen war, wenn etwa ein führender marxistischer Theoretiker in seinem philosophischen Privatleben ein Anhänger der Philosophie Arthur Schopenhauers war."(alle S.76)
Ein Drittel Jahrhundert musste vergehen, bis sich mir dank des ungemein spannenden und in vieler Hinsicht erhellenden Buches "Die Frankfurter Schule (Rolf Wiggershaus) erschloss, wer dieser führende marxistische Theoretiker denn gewesen sei:
"Horkheimer begriff sich als Verfechter der marxistischen Theorie... Aber im Direktorzimmer des Instituts ... hing ein Bild Schopenhauers. Wer ihn vor diesem Bild sitzen sah und ihn im Gespräch auf Schopenhauer als eine seiner wichtigsten Quellen hinweisen hörte, dem mochte vielleicht jene Stelle aus Karl Korschs Marxismus und Philosophie einfallen ... (s.o.)"

"Einem der Stipendiaten des Instituts, Willy Strzelewicz, ... erschien Horkheimer als ein dem Marxismus und Kommunismus nahestehender bürgerlicher Philosoph, als halb Neukantianer, halb Positivist, als ein Dozent, der offenes Diskutieren schätzte, der selber den Namen Marx selten in den Mund nahm und weder vom Lukacsschen Marxismus noch von der 'deutenden' Philosophie Adornos und Benjamins viel hielt." (66)

Wie in der weiteren Darstellung erkennbar ist, scheint auch von Mitgliedern der Frankfurter Schule, die ja u.a. angetreten sind, um einen Weg aus der Krise des Marxismus in den Zwanzigern zu finden, dieser Marxismus/Materialismus von manchen als quasi erratischer Block angesehen worden zu sein: ohne zwingende Vorgeschichte und ohne Einbettung in philosophische Denktraditionen - wenn man absieht von äußerlich bleibenden Verknüpfungen mit als materialistisch bezeichneten Denkern. 
Adorno, Benjamin und Bloch bildeten einen Gegenpol mit ihrer, in Einzelfällen bis zur Manie reichenden Überzeugung, dass in der Tiefe der Immanenz die tranzendierende Sprengkraft der bestehenden Gesellschaft zu entdecken sei, und sie Lenins Ausspruch (ich glaub in den Hegel-Exzerpten), dass ein kluger Idealismus dem klugen Materialismus näher stehe als ein dummer Materialismus, von ihnen wahrlich gelebt wurde.
Kein Wunder, dass Adorno sich bei Horkheimer den Mund für Benjamin fusselig reden musste, damit dessen Passagen-Projekt als vom Institut unterstützenswert anerkannt wurde. Was zwischen Adorno und Bloch sich genau abgespielt hat, hoffe ich im weiteren Verlauf noch zu erfahren, bislang weiß ich noch, dass Adorno wie gegen Marcuse auch gegen Bloch heftigst intrigiert hat und dieser nie Mitglied des Instituts wurde. Wir werden sehen :-)


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