Heut locht er uns die Fahrkarte


Zur Banalität des Bösen hat E. Jünger anlässlich der Nachricht von der Verhaftung Himmlers in sein Tagebuch vom 23. 5. 1945 notiert:
"Was mich an diesem Mann immer seltsam berührt hat, das war die penetrante Bürgerlichkeit. Man möchte denken, daß ein Mensch, der den Tod von vielen Tausenden ins Werk setzt, sich sichtbar unterscheiden müsse von anderen und daß furchtbarer Glanz ihn umstrahle, luziferische Pracht. Statt dessen diese Gesichter, die man in jeder Großstadt findet, wenn man ein möbliertes Zimmer sucht und ein vorzeitig pensionierter Inspektor die Tür öffnet."
Das mit der "luziferischen Pracht" ist ganz der alte Jünger, und seine Enttäuschung über diese billigen Aufblaspuppen, die sich anmaßen für das zu stehen, was Jünger einer kleinen Elite vorbehalten glaubt, ist in seinen Tagebuchblättern immer wieder zu finden. Aber Folgendes geht tiefer, dort, wo wir noch immer und in einer auf den ersten Blick sanfteren Totalität mehr denn je sind:
"Hieran wird andererseits der Umfang deutlich, in dem das Böse in unsere Institutionen eingedrungen ist: der Fortschritt der Abstraktion. Hinter dem nächstbesten Schalter kann unser Henker auftauchen. Heut stellt er uns einen eingeschriebenen Brief und morgen das Todesurteil zu. Heut locht er uns die Fahrkarte und morgen den Hinterkopf. Beides vollzieht er mit der selben Pedanterie, dem gleichen Pflichtgefühl. Wer das nicht bereits in den Bahnhofshallen und im Keep smiling der Verkäuferinnen sieht, geht wie ein Farbenblinder durch unsere Welt. Sie hat nicht allein fürchterliche Zonen und Perioden, sondern sie ist von Grund auf fürchterlich."

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