Ruth Klüger als "bookmobile lady"

Als diesjähriges Gratisbuch der Stadt Wien wird Ruth Klüger "weiter leben. Eine Jugend" verteilt.
In diesen Tagen ist aber auch "unterwegs verloren. Erinnerungen" über das Leben der aus Wien stammenden Autorin und Germanistin in den USA erschienen.
Darin erinnert sie sich durchaus positiv, wenn auch als anstrengenden Job an ihre Zeit als Bücherbus-Bibliothekarin (danke an M.F. für den Hinweis!)

Wir waren nach Berkeley zurückgekehrt, Tom war Assistenz-Professor, also wieder ohne festen Vertrag, aber mit Aussicht auf einen solchen. Ich absolvierte innerhalb eines Jahres den Magister in Bibliothekswissenschaft und fand eine Arbeit, die schön war und an die ich mit Vergnügen zurückdenke: Ich war fahrende Bibliothekarin in einem sogenannten Bookmobile, einem Bus, der mit Büchern in der Gegend herumfährt und Kindern und Hausfrauen Lesematerial empfiehlt und aushändigt. Diese Ausbildung garantierte mir auch ein Maß an Selbständigkeit, […]

Nach der Scheidung war ich immer noch die „bookmobile lady“, jetzt aber ganztägig. Mein kleiner Sohn Danny war stolz auf mich, wenn der Bus bei seiner Schule hielt, weil seine Freunde mich um Rat fragten, welches Abenteuerbuch sie ausleihen sollten.

In den Vororten empfahl ich den Hausfrauen Romane unterschiedlicher Qualität, doch meist waren es Beziehungsgeschichten; die Männer bevorzugten historische Bücher, populäre Berichte vom amerikanischen Bürgerkrieg oder vom Zweiten Weltkrieg, die Buben lasen Bücher über Hunde, die Mädel über Pferde - man konnte gar nicht genug davon mitbringen. Allen gab ich Ratschläge, und so war es mir völlig selbstverständlich, daß es verschiedene Lesergruppen mit unterschiedlichen Lesebedürfnissen gibt, die mit den äußeren Lebensumständen der Leser mehr zu tun haben als mit der Qualität der Bücher. Ich stellte nur seufzend fest, daß die Hundebücher besser waren als die über Pferde und fragte mich vergeblich, was die präpubertäre weibliche Libido an diesen Tieren so fasziniert. Am literarischen Gehalt läßt sich die Anziehungskraft dieser Geschichten für die Leserinnen nicht festmachen. Ein paar Jahre später läßt die Pferdemanie merkbar nach. Hier ist ein weiterer Beweis dafür, daß wir Lebenszeit für Lesezeit aus anderen als ästhetischen Gründen eintauschen. Jahrzehnte später wunderte ich mich, als einer meiner Aufsätze mit dem Titel „Frauen lesen anders“ viel Aufmerksamkeit hervorrief, als wäre ich auf etwas Funkelnagelneues gestoßen.

Ich brachte also haufenweise Bücher nach Hause und las sie so oberflächlich, wie’s ging, um möglichst viel über so viele wie möglich zu wissen. Bei Kindern aus armen Familien übersah ich’s, wenn sie Bücher beschädigt zurückbrachten. Hätten sie das Strafgeld zahlen müssen, erklärte ich meiner Vorgesetzten, dann würden wir weder die Bücher noch die jungen Leser wiedersehen. Und sie sollen doch lesen. Der Job war anstrengend und schwer mit der Versorgung von zwei Kindern zu vereinen, er kostete viel Energie und konfrontierte mich zunehmend mit der Frage, ob ich diesen Beruf wirklich den Rest meines Lebens ausüben wollte.

Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. S. 85 u. S. 93f

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