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Auseinander getanzt

Durch den Hinweis von Adresscomptoir auf die Tagung "Jazz hinter dem Eisernen Vorhang" und auf das Forschungsprojekt "Jazz im 'Ostblock' - Widerständigkeit durch Kulturtransfer" ist mir das Lied von Wolf Biermann eingefallen, der vom Schicksal eines Drainage-Legers aus Buckow berichtet, der gegen das Verbot, nach westlicher Manier zu tanzen, verstoßen hatte. Ist zwar nicht Jazz, sondern Rock 'n Roll, doch für die Machthaber wars eh alles eins. In gewisser Weise für die Machthaber beider Seiten, wie folgende Textstelle zeigt:

Beide Seiten wollten Familien mit fürsorglichen, asexuellen Hausfrauen und männlichen Beschützern. In diesem Zusammenhang sahen beide Seiten Rock-'n'-Roll-Fans durchaus als politische Bedrohung.
Die Repressionen waren jedoch in der DDR weitaus systematischer und stärker. In der DDR bemühten sich Parteiorganisationen und staatliche Stellen insbesondere, sogenanntes offenes Tanzen als imperialistischen Einfluß zu unterbinden. FDJ-Klubs engagierten zum Teil regelrechte Aufpasser. 1957 gab ein Mitarbeiter des Ministeriums für Kultur die Anweisung an die Konzert- und Gastspieldirektion, die Verbreitung des Rock-'n'-Roll in der DDR zu verhindern. ...
Die Ähnlichkeit von DDR- und BRD-Kulturvorstellungen rührte Mitte der 1950er Jahre zu einer merkwürdigen Konstellation. Westdeutsche Kirchenführer und konservative Politiker, unter anderem Innenminister Gerhard Schröder behaupteten mehrfach, daß Jugendliche in der DDR besser vor den Gefahren von Konsumkultur und amerikanischen Kultureinflüssen beschützt wurden.


Und hier das Lied - hab leider keine Aufnahme gefunden. Bin auch nicht sicher, obs je auf einer Platte erschienen ist, oder nur auf jenem legendären Tonband zu hören war, das Ende der 60er in Wien herumgereicht und kopiert wurde:

Die Ballade von dem Drainage-Leger Fredi Rohsmeisl aus Buckow
Wolf Biermann

Das ist die Ballade von Fredi Rohsmeisl
Drainage-Leger auf den Äckern um Buckow
Gummistiefel hoch bis zum Bauch
sein Häuschen links am Fischerkietz.
Bei Lene Kutschinsky war Tanz
er hat auseinander getanzt
mit seiner Verlobten – das war verboten
na schön...

Junge, ich hab Leute schon tanzen sehn
Junge, das war manchmal schon nicht mehr schön.
Aber schadet uns das?
Nein.

Und als er so wild auseinander tanzt
die Musik war heiß und das Bier war warm
da hatten ihn plötzlich zwei Kerle am Arm
und schmissen ihn auf die Taubengasse.
Und schmissen ihn über den Lattenzaun
und haben ihn in die Fresse gehaun
und er hatte noch nichts getan
und hatte den hellblauen Anzug an.

Junge, ich hab Leute schon schlagen sehn
Junge, das war manchmal schon nicht mehr schön.
Aber nützt uns das?
Nein.

Da hat Fredi Rohsmeisl beide verrammt
zwei links zwei rechts er traf genau
und waren zwei große Kerle die zwei
halb Buckow sah ihm zu dabei.
Das Überfallauto kam antelefoniert
hat Fredi halb tot gehaun
das haben die Buckower Männer gesehn
und auch die Buckower Fraun.

Junge, ich hab Leute schon zusehn sehn
Junge, das war manchmal schon nicht mehr schön.
Aber nützt uns das?
Nein.

Dann kriegte er einen Prozess an Hals
als Konterevolutionär
wo nahm der Staatsanwalt nur das Recht
für zwölf Wochen Knast her?!
Seitdem frisst ihn ein stiller Zorn
und nach dem zehnten Bier
erzählt er Dir seine große Geschichte
von hinten und auch von vorn.

Junge, ich hab Leute schon weinen sehn
Junge, das war manchmal schon nicht mehr schön.
Aber nützt uns das?
Nein.

Und er findet noch kein Ende
und er ist voll Bitterkeit
und er glaubt nicht einen Faden
mehr an Gerechtigkeit.
Er ist für den Sozialismus
und für den neuen Staat
aber den Staat in Buckow
den hat er gründlich satt.

Junge, ich hab Leute schon fluchen sehn
Junge, das war manchmal schon nicht mehr schön.
Aber nützt uns das?
Nein!

Da gingen einige Jahre ins Land
da gingen einige Reden ins Land
da änderte sich allerhand
dass mancher sich nicht wiederfand.
Und als der zehnte Sputnik flog
da wurde heiß auseinander getanzt
der Staatsanwalt war selber so frei.
Und Fredi sah ihm zu dabei.

Junge, ich hab Leute sich ändern sehn
Junge, das war manchmal schon einfach schön.
Aber nützt uns das? (Ja.)





Tango-Bubis

Im zweiten Band des Deutschen Tagebuchs von Kantorowicz bin ich im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni 1953 auf diese Bezeichnung gestoßen. Ein Uni-Assistent von K. besucht diesen im Krankenhaus und erzählt schreckensbleich und ohne Parteiabzeichen auf dem Revers, dass die Bauarbeiter streikten und demonstrierten sowie Parteimitglieder verprügelten.
"Er vermutete westliche Provokationen. Unter den Linden trieben sich Tangobubis und Schlägergruppen aus West-Berlin herum und hetzten die Arbeiter auf."
Man könnte annehmen, dass der Assistent, den K. vorher zusammen mit anderen als "doktrinär überzüchtet" eingeschätzt hatte und später als "parteistrebsam" bezeichnete, einfach Parteifloskeln wiedergegeben hatte, so wie im DDR-Rundfunk zu hören:
"Und kein Deutscher kann, wenn er ernsthaft überlegt, auch nur für einen Augenblick annehmen, daß Adenauer, der schon tausend Arbeiterdemonstrationen zusammenschießen ließ, wirklich Arbeiterinteressen im Auge hatte, als er seine "Garde", Tangojünglinge, CIC-Agenten und ähnliches Gelichter, in hellen Scharen in den Demokratischen Sektor von Berlin marschieren ließ. Durch das rechtzeitige Eingreifen breiter Teile der Bevölkerung, die durch unsere Volkspolizei vorbildlich unterstützt wurden, sowie durch das Eingreifen der sowjetischen Besatzungsmacht - die die wahren Ziele der Ausschreitungen rechtzeitig und frühzeitig - früher als wir - erkannt hat - wurde ein Anschlag vereitelt, der gegen die ureigensten Interessen der Arbeiter selbst gerichtet war." (Erich Selbmann: Taten zum Wohle des Volkes[DDR-Rundfunk,23.6.1953])
Doch wenige Zeilen später übernimmt K. in einer realistischeren Einschätzung selbst diese Bezeichnung, was darauf hinweist, dass "Tangobubis" auch für ihn eine zutreffende und negativ gemeinte Bezeichnung für einen bestimmten Typus waren:
"Mag sein, dass auch Provokateure den Zeitpunkt genutzt haben, doch was für eine armselige Ausrede, sich weiszumachen, ein paar Tangobubis vermöchten einen Arbeiteraufstand auszulösen."
Auch bei Victor Klemperers "So sitze ich denn zwischen allen Stühlen" finden sich "Tango-Jünglinge" im Umfeld der 17.-Juni-Ereignisse. Allerdings als Propaganda-Ausdruck gekennzeichnet:
"LQI. Tango-Jünglinge aus Westberlin"
Mit LQI = "lingua quarti imperii" bezeichnet Klemperer SED-Jargon-Ausdrücke, analog zu den in der Nazizeit geschaffenen Begriffen, die er mit "LTI" ("lingua tertii imperii") gekennzeichnet hatte.
Ob Klemperer in seinen Tagebüchern 1933-45 "Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten" bereits "Tangobubis/jünglinge" in seine Jargonliste aufgenommen hat, kann ich mich nicht erinnern, glaube aber eher nicht.

Jedenfalls wurden im "Dritten Reich" in unterschiedlichen Zusammenhängen Jugendliche, welche den HJ-Normen nicht entsprachen, mit "Tangobubis/jünglinge" verächtlich zu machen versucht.
Z.B. konnte bereits sorgfältig gewählte Kleidung beim Theaterbesuch statt Uniform zum Ärgernis werden:
"Wenn wir ins Theater gingen, dann machten wir uns fein, egal ob privat oder beim Theater-Ring der HJ. In gewisser Weise opponierten wir sogar gegen den HJ-Zwang, wenn wir in blauem Einsegnungsanzug, dunklem Mantel und weißem Schal ins Theater kamen, wo die meisten anderen in Uniform waren.
Wir begaben uns damit bewusst in eine Außenseiterrolle. Deshalb ärgerte es uns auch nicht, als uns nach einem Theaterbesuch einige Hitlerjungen, sicher angestachelt von ihrem Scharführer, abfällig Tango-Bubis nannten. Ganz im Gegenteil, wir waren sogar ein wenig stolz auf uns." (Jahrgang 28)

Dies dürfte die "Ur-Figur" des "Tango-Jünglings" gewesen sein, die vermutlich noch aus der Zeit vor der Machtübernahme der Nazis kommt:
"Damals trug ich Lackschuhe und weiße Kragen schon am Vormittag, das lange pomadige Haar lag mir glatt am Kopf, in der Mitte gescheitelt. Dazu übte ich einen Blick aus halb geschlossenen Augen, so als lohne es nicht, in den Tag zu sehen. Den Kopf leicht geneigt, begnete ich einer rauhen Welt, die mich Tangojüngling nannte" (Lorenzen: Als ich noch Tangojünglig war; in: Heinrich Himmler und die Liebe zum Swing). Ausführlicher hier.
Deutlich bewusstere Opposition legte die "Swing-Jugend" an den Tag. Ihnen gemeinsam war die Liebe zum Jazz und ihre Anglophilie, und sie hatten weder mit Hitlerjugend noch mit "Drittem Reich" was am Hut:
"Die ansonsten z.B. als "Swing-Heinis", "Tango-Bubis" und "Hotter" Beschimpften fanden sich z.B. im "Churchill Club" , als "Anthony Swingers" oder eben - bspw. in Kiel - im "Club der Plutokraten" zusammen. Sie legten sich englische Pseudonyme wie "Eton Jackie" oder "Fiddling Joe" zu, begrüßten sich mit Worten wie "Swing high - Swing low" oder gar mit "Swing Heil" und eben der erwähnten Verballhornung des "deutschen Grußes" - "Heil Hotler"." (Heil Hottler grüßt der Plutokrat)
"Nein, 'ganz normale Jugendliche', wie man es heute oft liest, waren die "Hotter", "Stenze" oder "Tango-Bubis" kaum. Der Normalität entsprachen damals die Anderen. Ein paar Tausend, in großen Städten wie Hamburg, Frankfurt am Main, Bremen oder Hannover, konnten nicht normal sein, auf dem Hintergrund der Millionen der Hitlerjugend. Gegen das Attribut "normal" hätten sie sich vehement gewehrt. Wenigstens insofern stimmten sie mit der Masse überein." (Lexi-tv - Swing)
"Doch die Swing-Kids fielen durch ihr Verhalten und ihre Lebensart aus den Idealvorstellungen der Nationalsozialisten heraus, mit deren Ideologie sie schon bald in Konflikt gerieten. Die deutsche Frau sollte sich nicht schminken und nicht aufreizend kleiden. Die männlichen Swing-Kids, auch Swing-Heinis oder Tango-Jünglinge genannt, waren das Gegenteil von dem, was man sich unter einem Hitlerjungen vorstellte. Sie gaben sich weder drahtig noch soldatisch, sondern trugen anstelle des von der HJ propagierten Kurzhaarschnitts ihre Haare lang."(Die Swing-Jugend)
Ein neuer Text nach der Melodie eines bekannten Liedes verspottete die HJ:
Kurze Haare, große Ohren
so war die HJ geboren!
Lange Haare, Tangoschritt -
da kommt die HJ nicht mit! O-ho. O-ho!
Und man hört's an jeder Eck'
die HJ muß wieder weg! O-ho, O-ho! (
Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich. S. 270)

Die Repressionen ließen nicht lange auf sich warten:
"Der HJ ­ Streifendienst nahm seine Aufgabe der Überwachung von 'Verwahrlosungs- und Zersetzungserscheinungen' in Eimsbüttel mit Härte wahr. "Tango-Jünglinge" oder "Swing-Heinis" wurden von den Streifendienstlern oft brutal verprügelt. Der Eimsbüttler Swing-Heini Gunter Lust erinnert sich:
'Immer wieder wurde man aus den Lokalen und Kinos herausgeholt, verprügelt und zu Wochenendarbeit verurteilt. Dies schmeckte uns gar nicht. Mich hatte die Streifen HJ eines abends, als man mich nach 22 Uhr noch auf der Straße antraf, in ein Treppenhaus gezerrt und gottjämmerlich verprügelt. Meine Freundin, die ich bei mir hatte, ließ man wieder laufen.'..(...)
Solche Schlägereien hatten nichts mehr mit den harmlosen Kämpfen "Straße gegen Straße" zu tun, die die Kinder und Jugendlichen in Eimsbüttel immer einmal wieder gegeneinander austrugen und von denen viele Zeitzeugen noch heute mit Begeisterung berichten. Das war bitterer Ernst. Einige Jugendliche, die sich zur Wehr setzten, gerieten sogar in die Fänge der Gestapo."(HBS)
Es scheint, dass auch im Westen Nachkriegsdeutschlands die Nazibezeichnung ziemlich bruchlos auf Jugendliche angewandt wurde, die vom Idealmodell der "Aufbaugeneration" abwichen:
"Auch in den politischen und publizistischen Debatten über einen verschärften 'Jugendschutz' wurde eine angeblich weit verbreitete jugendliche 'Verwahrlosung' beklagt, die sich in Aufsässigkeit, Unordentlichkeit, Herumtreiberei äußere und zur sicheren „Asozialität“ führe. Tiraden gegen „Tangojünglinge“, „Modepuppen“ oder „Halbstarke“ gehörten zur Standardkommunikation zwischen den Angehörigen der Kriegs-und der Nachkriegsgeneration, und das nicht nur in Deutschland." (40 Jahre 1968)
"Der Volksmund ist bisweilen ebenso humorig wie treffsicher. In den Jahren nach dem 2. Weltkrieg hat er mit bitterem Sarkasmus einen neuen Begriff geprägt, den 'Tango Jüngling'. Sein Steckbrief ist landläufig bekannt. Bekleidung: kothurnartige Crépe-Schuhe, Buschhemd, Dritter-Mann-Mantel, grelle Krawatte; Auftreten: übertrieben mode- und geltungssüchtig, hält sich meist in oder vor Kinos oder auf Rummelplätzen in lockeren Rudeln auf oder in Kneipen, wo Jazz heiß serviert wird; besondere Kennzeichen: Kofferradio oder Motorräder, die sehr schnell sind und viel Lärm machen."   ("Synkopen am laufenden Band...")
Allerdings hat sich zum Teil die Erscheinungsform, an der sich das Etikett "Tango-Jünglinge" anheften ließ, inzwischen geändert, denn ihre Beschreibung wirkt für die damalige Zeit bereits sehr unmodern:
"Vor allem der Swing, damals die im Jazz vorherrschende Stilart, begeisterte uns Jugendliche. Die neue Musik war immer öfter im Radio zu hören ... Besonders gut erinnere ich mich an die "Harry-Harder-Combo" vom Kurfürsten- damm Berlin, die irgendwann im Winter 1947/48 im "Resi" engagiert war. Eine tolle Band - wenn sie "Hey-Ba-Be-Re-Ba" hotteten oder den "Flat Foot Floogie" swingten, schrien wir vor Begeisterung. Man nannte uns damals etwas verächtlich die Swing-Heinis. Wir wiederum nannten unsere Altersgenossen, die Schnulzen und lahme Schlager liebten (wie z.B. die "Caprifischer"), herablassend Tango-Jünglinge. Sie schmierten sich Pomade in die Haare, hatten lange Jacketts an und waren hinter allen Mädchen her. Diese Stenze zog es mehr in die "Scala", in der sehr gute Tanzorchester spielten, wie z.B. "Harry Weissnicht" vom "Luisenhof" Dresden-Weißer Hirsch. Hier machte man auf vornehm. Die Preise waren hoch, und es herrschte Krawattenzwang. Wer ohne Schlips kam, wurde nur eingelassen, wenn er sich an der Garderobe einen auslieh gegen Hinterlegung eines Pfandes. Solchen Firlefanz mochten wir nicht und gingen dort kaum hin." (Jazz in Görlitz)
Aber gerade auf diese Auslaufmodelle warf das Maschinengewehr Gottes seine strengen kirchlichen Augen:
"Und jetzt frage ich Dich: Mädel, kennst Du den Mann, den Du Deinen Bräutigam nennst? Mit dem Du eines Tages vor den Traualtar treten willst? Ist er etwa auch einer jener Tangojünglinge, die Augenränder haben wie die Autoreifen?
Weißt Du auch, daß in jedem Mann ein Ritter und ein Raubritter steckt? Hüte Dich davor, den Raubritter, den Casanova in ihm herauszufordern! Denn dann wird er an Deiner Seite die Straße mit geilen Augen wie ein Scheinwerfer nach sexueller Aufputschung abgrasen." (Pater Leppich)
Und schließlich ein später Reflex von Marx Merkel:
"Die Stagnation im Weltfußball fällt aber auch auf die Trainer zurück, die mit ihrer Mannschaft zu oft zufrieden sind. Sie streicheln ihre Tango-Bubis immer nur." (Max Merkel)

Schreckliche Bürger in schrecklichen Burgen

Irgendwie ist mir der Titel "Schrecklicher Polizist in einem schrecklichen Fall" bekannt vorgekommen. Ist es auch: das zugrundeliegende und zum Beitrag passende Motiv stammt aus einem wunderbaren Gedicht von Julian Tuwim, welches in einem der wichtigsten Bücher des vorigen Jahrhunderts abgedruckt ist, im "Museum der Modernen Poesie" (eingerichtet v. H.M. Enzensberger), und mich viele Jahren begleitet hat:
Bürger

Schreckliche Burgen, Burgen auf Bergen
beherbergen schrecklich schreckliche Bürger.
An Wänden wächst der Pilz wie an Särgen.
Finsterer Winter, frostiger Würger.

Seit frühem Morgen schelten sie, schnaufen,
weil Schnee, weil teuer, weil dies, weil das da.
Ein bißchen sitzen, ein bißchen laufen,
und alles Wahnsinn. Phantome. Basta.

Prüfen die Uhren, prüfen die Taschen,
zupfen an Schlipsen, glätten die Bärte.
Gehen herab in stolzen Gamaschen
von ihren Burgen - auf unsere Erde.

(...)

Am Abend sinken die übertrieben
geschwellten, immer schwereren Birnen.
Spähn unter Betten, suchen nach Dieben,
stoßen ans Nachtgeschirr mit den Stirnen.

Und wieder prüfen sie Taschen, Zettel,
geflickte Hinterteile, Geschwüre,
heilige Habe, den Bürgerbettel,
das eigentümlich, ausschließlich Ihre.

Dann beten sie noch: "Laß Gnade walten ...
schütz uns vor Hunger ... vor Krieg ... vor Schurken"
und schlafen ein, die Fressen in Falten,
schreckliche Bürger in schrecklichen Burgen.


Raus- und Reinlese

Die konservative Revolution vom Mohler kugelt noch immer herum, die sollte doch schon längst zurück gegeben sein, auch die Operation Epsilon habe ich schon lange dem S. versprochen, den Arbeiter und den Eumeswil erspar ich mir vorerst, fürs erste habe ich genug vom Käferkönig. Auch seine totale Mobilmachung nicht weiter gelesen, da ich nur die von ihm später gereinigte Fassung hatte. Die Horuckschriften aus der militaristischen Epoche machen nur Sinn in den Originalfassungen, in den Gesammelten Werken ist so viel wegredigiert, dass man fast den Eindruck kriegt, der gute Ernst war immer schon ein schöngeistiger Gutmensch. Da die Cioranschen Tagebücher in der deutschen Ausgabe ohne die markigen Sprüche aus der Zeit in der Eisernen Garde auskommen, ist auch hier mein Interesse gesunken, weil nicht unwesentlicher Teil seins Denkens damit ausgeklammert wird. Macht, Geist, Wahn, Hitlers Volksstaat, Volkes Stimme und Unser Kampf erledigt. Trotz unzweifelhafter Qualitäten und origineller Sichtweisen Götz Alys auf die Mentalitätsgeschichte der Nazizeit scheint es doch keinen so radikalen Bruch zum 68er-Bashingbuch zu geben wie vorerst von mir angenommen. Eine gewisse Vorliebe, den Blick auf das einmal Fokussierte festkleben zu lassen und den Archivfund vorwiegend als Beweismittel statt als Reflexionsanlass zu nehmen, läßt sich in allen genannten Publikationen vermuten. Die unheimlichen Publizisten sind eher zufällig in meine Hände geraten, da die Katzen meinten, ich sei als Unterlage für ihren Nachmittagsschlummer bestens geeignet und somit angesichts des eingeschränkten Bewegungsspielraums mir nur eine geringe Buchauswahl zur Verfügung stand - und da sind es eben die Nazipublizisten im Regal neben dem Sofa gewesen. Sie konterkarieren sehr gut Alys These, dass die Aufarbeitung der Nazizeit in den 60ern ohnehin vom politischen Establishment geleistet wurde statt von den Achtundsechzigern. Fertig gelesen den Ochsen von Kulm aus der Hinterlassenschaft meiner Mutter bzw. war es ein Buch, das ich mit ca. 10 Jahren geschenkt bekommen habe. Interessant daran ist, dass es von der Fiktion lebt, dass die bayrischen Bauern eine Art nationalen Abwehrkampf gegen die amerikanischen Besatzer führten. Völlig ausgeblendet wird die Vorgeschichte - Nazideutschland - und dass antiamerikanische Ressentiments nicht nur aus dem Widerstand gegen Flugplatzbauten in diesem Gebiet und dem Drang nach einem friedlichen geeinten Deutschland stammen, sondern wesentlich aus der real existierenden Naziverseuchung. Wie da ein DDR-Autor für die DDR-Bewohner eine Welt der "echten Patrioten" gegen die fremden Besatzer entwirft, gehört wohl zu den skurrilsten Episoden des Kalten Krieges. Völlig ungeniert wird die nationale Karte ausgespielt. Dabei liest sich das Buch sehr flott und ist zum Teil auch sehr witzig und die Idee, dass ein Bauer, der wegen einer illegalen Schmieraktion ("Ami go home - wir wollen die deutsche Einheit") für 30 Tage ins Gefängnis soll, mit Hilfe eines geborgten Ochsen die bayrische Bürokratie durcheinanderwirbelt und schließlich als sein eigener Bewacher fungiert, erinnert ein bißchen an O.M. Graf.
Ansonsten bin ich wieder beim Kantorowicz angelangt, zwischen dem Deutschen Tagebuch das Exil in Frankreich, dazu Feuchtwangers Teufel von Frankreich. Nossacks Tagebücher 43-77 und Mauriacs Düsteren Jahre liegen bereit, das Klingsor-Paradox als Nachwehen zum Heisenberg ist gerade fertig geworden; ambitioniert aber m.E. nicht wirklich gelungen. Mitten drinnen bin ich im Paxton, Anatomie des Faschismus, eine der großartigsten Analysen ever read.
Der Lesefrühling läßt sich gut an.

Kaiserliche Projektile

"Mir schossen die Geheimgänge und Winkel der Hofburg durch den Kopf"
schreibt Lydia Mischkulnig im Standard-Album. Schon schlimm, diese Hinterlassenschaften der Habsburger. Noch schlimmer, dass die Hofburg jetzt möglicherweise weder Geheimgänge noch Winkel hat. SchriftstellerInnen können einiges anrichten, gelegentlich.

Staubbeutel der Vergangenheit

Marina Lewycka schreibt in ihrem wunderbaren Roman Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch:
Ich merke, dass ich, auch wenn ich es nicht will, in dieses Drama hineingezogen werde und dass es mich in meine Kindheit zurückbringt. Es hat mich bereits erfasst. Wie ein Staubsauger für gebildete Leute. Der mich hineinzieht in die Staubbeutel der Vergangenheit mit ihren grauflockigen Erinnerungen, dorthin, wo alles formlos, unbestimmt und dunkel unter dickem Staub verborgen liegt - überall nur Staub, der mich erstickt und lebendig begräbt, der meine Lungen füllt und meine Augen blind macht (...)

Kopffußball

Wie dem Burgenland-ORF zu entnehmen ist, sind die österreichischen fußballspielenden Literaten Weltspitze. Über den internationalen fußball-literarischen Bewerb ab Mai informiert doppelpass.

Für dieses Posting verwende ich erstmals und gerne das von der MA 13 für die Büchereibediensteten für Mails vorgeschriebene Europameisterschaftslogo :





Blogstöckchen: 123 6-8 57-72

Passenderweise nach der Mitternachtsrunde mit dem Zottel habe ich das von Library Mistress geworfene Blogstöckchen gefunden.

Die Regeln sind:

- nimm das nächst liegend buch.
- schlage es auf seite 123 auf.
- notiere die sätze 6 - 8 in dein blog!
- und bitte 5 blogger, das gleiche zu tun.

Das erste Buch, das ich erblickte, ruhte unterm Hintern der Katze.

Es waren E. M. Ciorans "Cahiers 1957-1972", jene wunderbare Lektüre "für Gescheiterte und Schlaflose". Ich hatte ausreichend Muße mit Spannung zu erwarten, welche Wortspende der Meister der kurzen ausdrucksstarken Sätze bereit hielt. Nach geraumer Zeit erheischte Emily das Öffnen der Ausgangstür, und ... naja.

Das sind die Sätze 6-8 auf Seite 123:

Ein Kritiker sollte nicht regelmäßig psychologische Abhandlungen lesen, noch weniger psychoanalytische.
Barthes nennt Jules Lemaître (den er nicht gelesen hat) einen banalen Kritiker. Hätte aber Lemaître den philosophischen Jargon seiner Zeit angewandt, so wäre er sicher nicht banal - er wäre unleserlich.


Das Stöckchen reiche ich weiter an:

nicht angenommen

diskursive formationen (Julia Franz)

Warteschlange (RokkerMur)

Duftender Doppelpunkt (Petra Öllinger und Georg Schober)

nicht angenommen


Otto Weininger wider den Kreis

In seiner "Konservativen Revolution" läßt Mohler Otto Weininger in einem langen Zitat zu Wort kommen, weil er in seinem Bestehen auf die "Einsinnigkeit der Zeit" den konsquentest formulierten Gegenentwurf zu jener konservativen Weltanschauung liefert, welche in zumeist trüben Gewässern Wiedergeburten periodisch herumplantschen sieht. Auch kosmologische Kreisläufe werden gerne als wohlfeile Deus-ex-Machina-Erklärungsmuster für selbst verursachte politische Katastrophen herangezogen.
Weiningers Text hat da einen erfrischenden Gegen-Wahnsinn:
„Man hat allgemein dem Kreis eine besonders hohe Dignität als dem vollkommensten, symmetrischen, ebenen Gebilde zuerkannt. Jahrtausende- lang hat die Auffassung, die einzige erhabener Gegenstände würdige Bewegungsform sei die im Kreise, bestanden und bekanntlich noch Kopernikus gehindert, die Planetenbewegung um die Sonne anders zu denken als kreisförmig . . . Die elliptische Bewegung teilt zwar nicht ganz mit der kreisförmigen das Pathos des Gesetzes, die Würde der Launenlosigkeit, dafür aber haftet ihr in gleicher Weise wie jener die Eigenschaft an, die hier zum Gegenstande der Kritik gemacht werden soll. Die rückläufige Bewegung ist nämlich die anethische Bewegung katexochen. Sie ist selbst- zufrieden, sie schließt das Streben aus, sie wiederholt das Gleiche immer- fort, sie ist, moralisch betrachtet, schlimmer als der wenigstens immer weiter rückwärts wollende, wenigstens sinnvolle Krebsgang . . . Sich im Kreise drehen ist sinnlos, zwecklos; jemand, der sich auf der Fußspitze herum- dreht, selbstzufriedener, lächerlich eitler, gemeiner Natur. Der Tanz ist eine weibliche Bewegung, und zwar vor allem die Bewegung der Prostitution .,. Die Kreisbewegung hebt die Freiheit auf und ordnet sie einer Gesetzlichkeit unter; die Wiederholung des nämlichen wirkt entweder lächerlich oder unheimlich . . . Aus dem gleichen Grund ist es auch alles eher als eine Befriedigung des Unsterblichkeitsbedürfnisses, jene ewige Wiederkunft des Gleichen anzunehmen, wie sie pythagoreische und indische Lehren (auch die Weltentage des esoterischen Buddhismus) kennen, und wie sie Nietzsche wieder verkündet hat. Im Gegenteil, sie ist fürchterlich ... Der Wille zum (eigenen) Wert, zum Absoluten ist ja die Quelle des Bedürfnisses nach Unsterblichkeit. . . Der Fatalismus, das ist der Verzicht des Menschen, sich selbst je in Freiheit eigene Zwecke zu setzen, empfängt sein Symbol im Wiener Walzer. Die Tanzmusik begünstigt im Menschen die Verabschiedung des sittlichen Kampfes, ihre Wirkung ist ein Gefühl der Determiniertheit. . . Die Kreisbewegung ist schließlich auch lächerlich, wie alles bloß Empirische, d. h. Sinnlose; indes alles Sinnvolle erhaben ist. Damit hängt auch wohl zusammen, daß der Kreis und die Ellipse als abgeschlossene Figuren auch nicht schön sind. Der kreisförmige oder elliptische Bogen, als Ornament, kann schön sein: er bedeutet nicht, wie die ganze Kurve, die völlige Sattheit, der nichts mehr anzuhaben ist, wie die um die Welt geringelte Midgardschlange. Im Bogen ist noch etwas Unfer- tiges, der Vervollkommnung Bedürftiges und Fähiges, er läßt noch ahnen. Darum ist auch der Ring immer Symbol von etwas Unmoralischem oder Antimoralischem: der magische Kreis fesselt, er raubt die Freiheit; der Hochzeitsring fesselt und bindet, er nimmt zweien die Freiheit und Einsamkeit, er bringt statt dessen die Knechtschaft und Gemeinschaft. Der Ring des Nibelungen ist das Abzeichen des Radikal-Bösen ... Für die Griechen hat es im engeren Sinne keine Einsamkeit und kein Zeitproblem gegeben ... Daß die Einsinnigkeit der Zeit ein Ausdruck der Ethizität des Lebens ist, darauf weist vieles hin ... So hat es auch Christus empfunden ... Während die Erde, auf der wir leben, fortwährend kreist und kreist, bleibt der Mensch unberührt vom kosmischen Tanze."

Keine Chance für Konservative am Vernunftskriegsschauplatz der linken Teufelsanbeter

Armin Mohler zitiert in "Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932" den moderateren Konservativen Georg Quabbe, zu dessen Buch "Tar a Ri" er meint, dass es aus dem Schrifttum des Konservativismus durch seine Intelligenz hervorrage und damit das seit dem 19. Jahrhundert eingebürgerte Wort "Der Geist steht links" Lügen strafe. Dass eine solche Bemerkung in einem Buch mit mehreren hundert Seiten bibliographischer Angaben über konservative bis rechtsextreme Autoren der Weimarer Republik nur einem einzigen zugedacht wird, ist wohl aufschlussreicher, als der Verfasser beabsichtigte.

Auch das Zitat aus "Tar a Ri" bringt es auf den Punkt, was den Konservativismus im Unterschied zur Linken ausmacht, und das aus der Sicht eines Konservativen:
Dem Konservativen ist das Nachdenken über die Grundlagen der eigenen Weltanschauung eine Art Profanierung, so wie die Notwendigkeit der Beweisführung für die Existenz Gottes ein ästhetisches Ärgernis für jeden wirklich Gläubigen ist, die Zurückführung eines irrationalen Wertes auf das rationale Niveau, eine Entgötterung des Göttlichen, dem der Reiz des Unerklärlichen genommen wird, ohne dass man es mit den Teufelsanbetern der Linken auf ihrem Vernunftskriegsschauplatz ernstlich aufnehmen könnte."
That's it.
Im Einzelnen mögen durchaus kluge Überlegungen und tiefere Einsichten vorkommen, wie immer wieder etwa bei Ernst Jünger. Aber auch bei ihm bleibt unterm Strich jenes diffuse Etwas, ein aus alten Legenden, aus innerer Schau-Schau und aus gewaltsam zurechtgebogenen Mythen zusammengebasteltes Gebäude, auf Sand gebaut und von jeder kritischen Frage vom Zusammensturz bedroht. Auch ohne die Teufelsanbeter der Linken :-)